
“Wenn ich die Bilder aus Kabul so sehe, zerreißt es mir das Herz”- Das sagt Jasmin Nawal zu der momentanen Situation in Afghanistan. Tatsächlich herrscht dort ein katastrophaler Ausnahmezustand. Nach 20 Jahren Einsatz in Afghanistan sind die internationalen Truppen von dort abgezogen und hinterlassen eine chaotische Lage. Als Reaktion auf die Anschläge am 11. September 2001 intervenierte die USA und ihre Verbündeten im Namen des “War on Terror” militärisch darunter in Afghanistan und Irak. Sie verfolgten die Operation Enduring Freedom mit dem Ziel, die Al-Qaida und Taliban mitsamt ihrem islamistischen Terrornetzwerk, darunter auch Ausbildung- und Verwaltungseinrichtungen, auszulöschen. Im Februar 2020 wurde der Rückzug der amerikanischen Truppen mit den Taliban ausgehandelt und ab April dieses Jahres wurden Truppen zurückgeschickt. Noch bevor die letzten amerikanischen Truppen Ende August das Land verließen, hatten die Taliban über die Hälfte der einzelnen Provinzen erobert und die komplette Macht in Afghanistan übernommen.
Darüber, was genau passierte, wie es den Menschen geht und was für eine Rolle Deutschland dabei spielt, habe ich mit Jasmin Nawal gesprochen. Jasmin studiert in Marburg Nah- und Mitteloststudien und ist jung, klug und sehr wortgewandt. Sie ist Tochter afghanischer Eltern und in Deutschland aufgewachsen. Heimat ist für sie sowohl Deutschland als auch Afghanistan, obwohl sie das Land ihre Eltern bisher noch nie besucht hat: “Ich bin in einem afghanischen Elternhaus aufgewachsen, habe ihre Werte und Religion vermittelt bekommen, ich bin aber trotzdem in Deutschland sozialisiert, hab meine Freunde hier und so weiter. Ich könnte also nicht sagen ich bin Deutsche oder ich bin Afghanin”
Zuerst habe ich Jasmin gefragt, was beim Truppenabzug eigentlich schief gelaufen ist: “Der Truppenabzug ist klammheimlich geschehen. Gut, man wusste irgendwie USA und die Taliban haben über den Truppenabzug verhandelt und das Datum wurde auch festgelegt, aber die internationalen Länder hatten das in den Hintergrund gedrängt. Es lohnte sich nicht mehr, sich in das Geschehen in Afghanistan einzumischen, wichtiger waren jetzt innenpolitische Probleme, die Pandemie oder der Wahlkampf.”, weiter erzählt erzählt sie: “Es wurde sehr viel einfach nicht geplant. Waffen wurden dagelassen, wortwörtlich in die Hand der Taliban übergeben, humanitäre Hilfe hat man nicht mit eingeplant, die Banken haben teilweise fast alle geschlossen, die Leute verhungern in Afghanistan gerade. Also die Lage ist wirklich sehr, sehr schlimm und man hätte das durch Vorbereitungen vermeiden können. Dann wären die Menschen jetzt nicht in so einer misslichen Lage”
Wenn Jasmin über die Menschen in Afghanistan spricht, wird sie immer wieder emotional. Sie erzählt, dass sehr viele Afghanen im Moment mit Depressionen und Trauma zu kämpfen haben und zu den erschreckenden Bildern aus Kabul, die durch die Medien gegangen sind, sagt sie: “Als jemand, der für Menschenrechte steht, der für Inklusion steht, würden mich diese Bilder immer mitnehmen. Aber dann nochmal zu sehen, dass das dieses Land ist, aus dem meine Eltern kommen, das Land, das ich noch nie zuvor besucht habe, wovon ich aber Vieles gehört habe, womit ich auch viel teile; das ist dann nochmal eine andere Ebene. Ich muss sagen, das zerreißt einem wirklich das Herz!”. Es sei immer ein Stoß in den Magen, an die Situation erinnert zu werden und Jasmin könne sie vorstellen, dass dies für Personen, die aus Afghanistan geflüchtet sind oder noch Erinnerungen aus ihrem damaligen Leben mit sich tragen, noch schlimmer ist. “Diese Menschen tragen so eine große Wunde in sich und ich kann mir vorstellen, dass wenn sie immer wieder damit konfrontiert werden, macht das wirklich was mit ihnen. Ich habe Freunde, die wirkliche Horrorszenarien erlebt haben und daran immer wieder erinnert zu werden, ist auch ein immer wiederkehrendes Trauma.”
Da Jasmin Freunde und Verwandte in Afghanistan hat, hat sie auch eine starke Bindung zu diesem Land. Zu ihrem Studiengang über den Nahen- und Mittelosten bewegen sie ebenfalls persönliche Gründe. Sie hat ihre Muttersprache nicht lernen können, weil ihre Mutter Angst hatte, dass Jasmin, wie sie selbst, diskriminierende Erfahrungen macht, weshalb sie mit Jasmin nur Deutsch geredet hat. Jasmin sagt, es fehle ihr schon, die eigene Muttersprache zu beherrschen. Außerdem habe sie im Alltag oft das Gefühl, sich für das Afghanischsein oder die Religion rechtfertigen zu müssen und exemplarisch für alle Afghan*innen und Muslimas gesehen zu werden und wollte deshalb auch selbst mehr über die Verständnisse von Kultur und Religion in diesem Raum erfahren.
Ich frage Jasmin auch zu der Rolle Deutschlands im Krieg in Afghanistan. Nach einem Beschluss des damaligen Kanzlers Schröder im Dezember 2001 beteiligte sich Deutschland im Krieg in Afghanistan und hatte teilweise mehr als 5000 Soldaten dort stationiert, um sich mit den USA zu solidarisieren. Sie hat darüber, wie vermutlich auch viele Afghanen, gemischte Gefühle: “Ich kann mir vorstellen, dass viele Leute sehr viel Vertrauen und Dankbarkeit für die Bundesregierung hatten und auch haben, es ist nicht so, dass es wieder verpufft ist. Man hofft immer noch darauf, dass noch Hilfe ankommt und dass Menschen noch evakuiert werden können, da ist auch große Enttäuschung und auch Wut, Trauer, Verzweiflung, aber auf Hoffnung, dass noch etwas Gutes erreicht werden kann.” Ich frage auch, was Jasmin sich von Deutschland und Europa wünscht. Jetzt im Nachhinein könne man nicht mehr so viel ausrichten und militärisch zu intervenieren wäre menschenunwürdig. Wichtig sei jetzt humanitäre Hilfe. “Ich glaube auch nicht, dass man die Taliban anerkennen sollte. Mit ihnen Verhandlungen zu führen kann ich mir auch nicht vorstellen. Das Augenmerk sollte auf der Bevölkerung liegen. Auf denen, die demokratisch denken und für inklusive Menschenrechte gekämpft haben, denn die sind jetzt besonders gefährdet. Man sieht auch die Frauen auf den Straßen tagtäglich demonstrieren und es ist wichtig, dass man hilft, die Lebensgrundlage der Menschen zu sichern, denn politisch haben wir echt versagt”
Als es Mitte August zum Höhepunkt der Machtübernahme durch die Taliban kam, hat Jasmin sich mit einem guten Freund und weiteren Kommilitonen zusammengeschlossen. Sie wollten irgendetwas tun und haben mit dem Ziel, Hilfe zu leisten, eine Instagramseite erstellt. Dort haben sie Bilder von zahlreichen Menschen mit Schildern mit der Aufschrift “Ich bin Kabul” gepostet, um Politiker*innen in Deutschland unter Druck zu setzen. Sie haben gefordert, möglichst viele Menschen aus Afghanistan zu evakuieren und dass ein Abschiebestopp verhängt wird. In der kurzen Zeit hat die Initiative viel erreicht und wird von großen Parteien wie den Grünen und den Linken in Hessen unterstützt. Inzwischen heißt die Initiative “Ich bin Afghanistan” Hier kommst du zur Instagramseite der Initiative.
Durch ihre Kontakte und Freunde in Afghanistan, hat Jasmin auch viele erschreckende Geschichten mitbekommen. Sie erzählt von einem Mann, der mithilfe der Initiative aus dem Land geflogen werden sollte. Er und seine Familie haben es geschafft an den Flughafen zu kommen und auch, sich durch alle der zahlreichen Checkpoints auf dem Flughafengelände zu kämpfen. Nur zwanzig Meter vor dem Flugzeug wurde er von einem deutschen Soldaten abgewiesen, es hieße, er könne doch nicht mitfliegen. “Diesen Moment zwanzig Meter vor dem Flugzeug nochmal abserviert zu werden und was das für eine Gefühlslage gewesen ist, möchte man sich gar nicht vorstellen”, sagt sie dazu.
Für viele Menschen in Afghanistan sei der Truppenabzug und vor allem der Ablauf dessen eine pure Enttäuschung. In den letzten 20 Jahren wurden demokratische Strukturen aufgebaut, Frauen erkämpften sich tapfer ihre Rechte, Mädchenschulen wurden eröffnet und vielen Menschen wurde durch den Einsatz Hoffnung gegeben. Diese Hoffnung wurde den Menschen, wie Jasmin betont, “unter den Füßen weggerissen”. Viele haben für die Bundesregierung gearbeitet oder sich aktiv für Demokratie eingesetzt und dass sich das so einfach in Luft aufgelöst hat, bringt für viele Menschen viel Schmerz. Jasmin berichtet, es herrsche eine große Verwirrung und Unsicherheit. Depressionen seien auch momentan ein riesiges Problem in der Bevölkerung. Einige Familienmitglieder von Jasmin verstecken sich seit Wochen nur im Haus und haben Angst rauszugehen; das Geld und die Lebensmittel werden knapp.
Zu dem Truppeneinmarsch generell nimmt Jasmin auch Stellung. Sie empfindet den Einmarsch der Truppen als einen ziemlich radikalen Zug im Krieg gegen Terror. Sie finde es schwierig, dass die USA einen Krieg gegen den Terror ausrichte und dabei vergesse, dass sie auch mitverantwortlich seien. Die Mudschahidin, aus der sich die heutige Taliban entwickelten, wurde neben Pakistan auch von der amerikanischen Regierung finanziert, um die Sowjet Union aus Afghanistan zu vertreiben. Auch haben Drohnenangriffe der USA nachweislich auch Zivilisten getroffen, obwohl die amerikanische Regierung immer wieder beteuerte, nur Taliban getroffen zu haben. Sie sieht also den Einsatz kritisch.
Auf die Frage, was die Taliban in den letzten 20 Jahren gemacht haben, antwortet Jasmin, dass man zurückblickend sagen könne, dass es so wirke, als ob die Taliban auf einen Moment, wie diesen, nur gewartet hätten. “Man kann sich ja vorstellen, was sie in dieser Zeitspanne gemacht haben könnten. Man weiß auf jeden Fall, dass es viele Schulen gab, wo religiöse Lehrer junge Kinder, meist Waisenkinder, ausgebildet haben und da wurde auch dieses Weltbild, das die Taliban auch teilen, weitergeben. Da wurden Leute reingeholt, auch gegen ihren Willen, um tagtäglich den Koran auswendig zu lernen und sich deren Weltbild aneignen zu müssen” Wahrscheinlich haben die Taliban sich auch formiert und organisiert, soweit, dass diese Machtübernahme überhaupt stattfinden konnte.
Und was ist von den 20 Jahren übrig geblieben? Welche Bilanz kann man jetzt, nachdem die Truppen abgezogen sind, ziehen? Schwierig zu beantworten. “Die Nachwirkungen des Truppeneinsatzes sind zweischienig verlaufen. Zum einen gibt es super viele junge Leute, die total Pro-Demokratie sind und sich immer noch dafür stark machen, nochmal der Hinweis auf die Frauen, die wirklich vor den Gesichtern der Taliban protestieren. Diesen Mut muss man erstmal haben. Anderseits gibt es auch die Pro- Taliban Menschen, die jetzt erst recht sagen ‘wir wollen keinen westlichen Einfluss, wir wollen keine Truppen, wir möchten keine Moderne’. Ich würde aber behaupten, dass ein Großteil der Menschen für ein sicheres und inklusives, freies Land sind und auch sehr viel Hoffnung mitgenommen haben aus diesen Jahren und ich hoffe auch, dass das am Leben bleibt. Man kann sich ja auch vorstellen, dass wenn alles was man in den letzten Jahren hart erarbeitet wurde jetzt einfach aus den Händen gerissen wurde, weckt das eine Willensstärke, dass man dafür jetzt erst Recht einstehen möchte”
Abschließend sagt Jasmin, dass ihre größte Angst in Bezug auf Afghanistan sei, dass das Land komplett sich selbst überlassen total isoliert wird. Für die Bevölkerung sieht sie eine schwierige Zukunft voraus, sie vermutet, dass die Bevölkerung noch weiter in die Armut gleiten wird und die Lebensbedingungen sich noch weiter verschlechtern werden, wenn es keine Hilfsaktionen geben wird. “Mir ist es wichtig zu sagen, dass Afghanistan nicht vergessen werden darf. Es ist ein sehr verwundetes Land und ist am Bluten. Man muss sich um die Menschen kümmern, weil keiner sich ausgesucht hat, wo er geboren wurde. In Deutschland haben wir die faschistische Zeit gut aufgearbeitet, deswegen sollten wir unsere Stimme für die lautmachen, die gerade Hilfe brauchen. Man sollte nicht vergessen, dass die Bundesregierung auch eine gewisse Verantwortung hat.”
Nora Ruppelt, Q1
Du möchtest mehr erfahren?
Podcast: Kanackische Welle: “WTF happened in Afghanistan”
Artikel von Waslat Hasrat-Nazimi (Deutsche Welle)
Instagram: @ichbinafghanistan
Interview: SFR Kultur: 20 Jahre 9/11 – eine Zäsur?
danke für das Interview mit dieser wunderbaren jungen Frau, Jasmin Nawal. Ich war auf der Suche nach ihr – weil ich glaubte, sie verloren zu haben – so hoffe ich, ihr hier wieder auf die Spur zu kommen. Ich habe selten so einen Menschen an meiner Seite gehabt: schön innen wie außen, neugierig, offen ohne aufdringlich zu sein – danke für diese Sendung mit ihr und das Interesse an Afghanistan, aus dieser Perspektive betrachtet ist es um so wertvoller!